“Nicht wehren ist keine Option”: Zivilcourage und Selbstbehauptung lernen im gratis Polizei-Kurs

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Im Polizeikurs wird eine Busfahrt mit pöbelnden Störenfrieden simuliert. Schwandner und seiner Kollegin Blau fällt es nicht leicht, auch nur für die Zeit des Rollenspiels, die Seiten zu wechseln. (Foto: Winderl)

In den Bus 58, der vom Hauptbahnhof zur Silberhornstraße fährt, steigt an der Haltestelle Kapuzinerstraße Sergei mit einer Bekannten ein. Laut pöbelnd machen sich beide Luft über ihren Termin beim dort ansässigen Arbeitsamt. Die Passagiere des Busses werden unfreiwillig Zeugen, dass das Beratungsgespräch offensichtlich weniger erfolgreich verlaufen ist. “Ey, stell dir vor – ich soll fünf Tage die Woche arbeiten”, empört sich Sergei und nimmt in einem 4er-Sitz Platz. Ihm gegenüber sitzt eine junge Frau, deren lange Halskette nun in den Fokus der Aufmerksamkeit der beiden rückt – Sergeis Freundin hat sie ihr schon fast über den Kopf gezogen. Die junge Frau wird von den beiden Zusteigern bedrängt. Die Situation beginnt zu eskalieren, als andere Fahrgäste eingreifen wollen.

Schnitt.

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Alexander Schwandner zeigt, wie man einen Schlüsselbund zur Selbstverteidigung einsetzen kann. (Foto: Winderl)

Sergei heißt in Wirklichkeit Alexander Schwandner, ist von Beruf Polizeibeamter und leitet das sogenannte Polizei-Seminar. Er bricht das Praxisbeispiel mit einem lauten “fassen Sie mich nicht an” ab. Die Fahrgäste werden wieder zu Seminarteilnehmern und die 14 Stühle, die eben noch einen Stadtbus simuliert haben, wieder im Halbkreis im Schulungsraum der Polizeiinspektion 16 angeordnet. Seit 13 Jahren, seit er diese Art von Seminaren gibt, wählt Schwandner dieses Beispiel im Stadtbus. Und dennoch falle es ihm schwer, den Sergei zu mimen: “Schließlich sind wir zur Polizei gegangen, weil wir die Guten sein wollen”, sagt er mit einem Blick rüber zu seiner Kollegin Lena Blau, die eben noch Sergeis Freundin gespielt hat und ihren Kollegen bei dem “Polizei-Kurs für Zivilcourage und Selbstsicherheit” unterstützt. Wir befinden uns zwar an diesem Nachmittag in einer Polizei-Dienststelle, das Wort “Polizei” vor Kurs ist in diesem Fall jedoch ein Akronym und bedeutet: Potentielle Opfer lernen individuell Zivilcourage und Eigensicherheit im Kurs.
Durch Medienberichte sei das Thema Zivilcourage verblendet worden, doch Schwandner ist sich sicher: “Nicht die Gesellschaft muss sich verändern, wir müssen bei uns selbst anfangen!” Über viereinhalb Stunden wird er an diesem Nachmittag den Teilnehmern des Polizei-Kurses beibringen, wie man sich als Opfer in einer Situation wie im Rollenspiel verhält oder als Beobachter einer Gewalttat richtig eingreift.

“Was will der Täter in erster Linie?”, will der Polizeibeamte wissen. Zögerlich kommt eine Antwort: “Die Kette vielleicht”, sagt die junge Frau, der diese im Rollenspiel eben beinahe entwendet worden wäre. “Nein”, erklärt Schwandner, darum gehe es dem Täter nur in zweiter Linie. “In erste Linie geht es Tätern immer um Macht, Dominanz und Kontrolle.”
Nicht durch Körpergröße, sondern -haltung überzeugen

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Darüber reden ist gut, ausprobieren ist besser: Deswegen lösen die Kursteilnehmer auch einmal selbst den Notruf in der U-Bahn aus. Grundsätzlich sollte sich jeder mit dem Standpunkt der Notrufsäulen an „seiner“ Station vertraut machen. (Foto: Winderl)

Er und seine Kollegin reichern diese Theorie mit Anekdoten aus der polizeilichen Praxis an. Die PI 16 an der Arnulfstraße, an der beide Dienst tun, ist das kleinste Polizeirevier Bayerns. Dennoch haben die 44 Mann hier einiges zu stemmen: Die Betreuung der Münchner Drogenszene zum Beispiel, die am Hauptbahnhof am so genannten “Schwammerl” ihren Stammplatz hat. Kein leichtes Klientel – auch nicht für den großgewachsenen Schwandner!

“Ich überzeuge bei meiner Arbeit nicht unbedingt durch Größe und Masse”, berichtet Lena Blau. “Bei meinem Gegenüber muss ich mich eher durch Körperhaltung behaupten, als jemand, der größer ist als ich.” Und das führt die Seminarteilnehmer zu Phase eins von vier des richtigen Opferverhaltens: Eine gerade Sitzposition in Bus, Tram oder S-Bahn und auch bewusstes Aufstehen mit wachem Blick symbolisiert allen auf Krawall gebürsteten Sergeis dieser Welt: “Ich bin kein Opfer!”

“Haben Sie gemerkt, dass ich die Kette schon fast über ihren Kopf gezogen hatte?”, will Lena Blau von ihrem “Opfer” aus dem Rollenspiel wissen. “Nein”, gesteht die junge Frau verblüfft – Schwandner erläutert, dass das normal sei, denn unter Stress reduzierten sich Sinneswahrnehmungen um 80 Prozent – auch wenn es nur ein Rollenspiel war. “Ihr Verstand kann zwar zwischen Spiel und Realität unterscheiden – ihr Unterbewusstsein jedoch nicht”.

In Phase zwei geht es darum, sich verbal zu wehren, wenn der Täter nicht aufhört. Laut einer Studie der Polizei Hannover lassen so bereits 70 Prozent der Täter von ihrem Opfer ab.

Studien und Theorien sind recht und gut. Schwandner und Blau geht es darum, dass die Teilnehmer das Wissen des Polizei-Kurses in einer Gefahrensituation auch konkret umsetzen können. Zudem seien die ersten beiden Phasen die wichtigsten, erläutern die beiden Polizeibeamten. Deswegen geht es nun raus aus dem Seminarraum und hinaus auf die Straße oder besser gesagt, hinein in den Hauptbahnhof, den die beiden von ihren Streifen her wie ihre Westentasche kennen. Die Kursteilnehmer sollen einmal selbst erleben, wie es ist, sich verbal zu verteidigen: “Lassen Sie mich in Ruhe”, schreit einer nach dem anderen Schwandner an. Die Gruppe hat die Blicke der Passanten im Hauptbahnhof auf ihrer Seite. Doch im Notfall muss man sich trauen, den Standpunkt deutlich und laut klar zu machen.

Polizeibeamte als Freund und Helfer – gerade auch in Gefahrensituation

In Phase drei ginge es darum, andere Personen konkret um Hilfe zu bitten. Denn bei der Übung am Hauptbahnhof München wird klar, die Leute schauen zwar, aber niemand kommt näher. Ist es wirklich für einen Passanten so offensichtlich, dass es sich hier nur um eine Übung handelt? Oder ist es um die Zivilcourage nach dem Fall Dominik Brunner wirklich so schlecht bestellt? Konkret müsste man den Herren, der am interessiertesten gafft, ansprechen: “Sie da mit der schwarzen Brille, bitte rufen Sie die Polizei!” Es hätte womöglich schon gereicht, dass die Täter von Brunner abgelassen hätten, wenn ein Passant dem Opfer zugerufen hätte: “Halten Sie durch, die Polizei ist unterwegs”.

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Wenn gar nichts mehr hilft, muss auch das Zuschlagen geübt sein. Lena Blau trainiert mit einem Kursteilnehmer die richtige Schlagtechnik (Foto: Winderl)

Beim Polizei-Kurs wird auch deutlich: Die Polizei ist nach wie vor sprichwörtlich unser Freund und Helfer. Auch wenn nach einer Notwehr womöglich eine Anzeige folgt – die Polizeibeamten sind unsere Zeugen, ihnen ist bewusst, dass wir uns gerade in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden.

Zurück im Seminarraum zeigen Blau und Schwandner, was man tun kann, wenn die drei vorausgegangenen Phasen beim Täter keine Wirkung gezeigt haben und dieser nun gewalttätig wird. “Aufgeben ist in allen vier Phasen keine Option”, davon ist Lena Blau überzeugt. Verteidigen ist angesagt, zur Not mit dem eigenen Schlüsselbund. Schwandner zeigt, wie man diesen als Verteidigungsgegenstand einsetzen kann, wenn man die Schlüssel zwischen die Finger der geballten Faust packt und was es mit der, nach der Silvesternacht in Köln so berühmt gewordenen Armlänge Abstand auf sich hat. Interessanterweise ereignen sich jedoch die meisten Fälle von so genannter Gewaltkriminalität nicht um Mitternacht, sondern in München sei die größte Häufung zwischen 15 und 21 Uhr zu beobachten. Das Rollenspiel zu Öffnungszeiten des Arbeitsamtes war also realistisch gewählt.

Auch wenn an diesem Nachmittag die meisten Beispiele aus den öffentlichen Verkehrsmitteln stammten. Der MVV ist grundsätzlich ein sicheres Pflaster: Im Jahr 2015 haben 680 Millionen den Münchner ÖPNV benutzt – lediglich 270 Personen wurden dabei Opfer eines Gewaltdeliktes. Dass die Zahl noch weiter sinkt, dazu leisten die Polizeibeamten Blau und Schwandner mit den Polizei-Kursen einen persönlichen Beitrag.

Info und Anmeldung

Polizeikurse finden an mehreren Polizeidienstellen in München statt, etwa drei Mal im Monat in der PI 16 an der Arnulfstraße. Alex Schwandner ist sicher besonders engagiert und brennt für das Thema – schließlich hat er sogar ein Buch darüber verfasst: Stärke zeigen. Wie man sich und andere vor Übergriffen schützt.
Die Teilnahme ist gratis und kann von Einzelpersonen und Gruppen in Anspruch genommen werden. Info und Anmeldung unter: alexander.schwandner (at) polizei.bayern.de

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